Titel
Spory o polską duszę [Widerstreit über die polnische Seele]. Z zagadnień charakterologii narodowej w historiografii polskiej XIX i XX wieku [Zum Problem der nationalen Charakterologie in der polnischen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts]


Autor(en)
Wierzbicki, Andrzej
Erschienen
Warschau 2010: Wydawnictwo TRIO
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 18,19
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maciej Górny, Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau

„Nationale Charakterologie“, wie sie im Titel des Buches von Andrzej Wierzbicki erwähnt wird, ist eine Sammlung von Urteilen über die angeblich angeborenen oder historisch angewachsenen Eigenschaften einer Nation. Bekannt und verbreitet seit Jahrhunderten, wurde mehrfach versucht, diese Konstrukte in den Rahmen einer standarisierten Methodologie zu fassen. Theoretisch und institutionell am erfolgreichsten waren dabei vielleicht die deutschen Völkerpsychologen des 19. Jahrhunderts.1 Wierzbicki unternimmt nicht den Versuch, diese Forschungsrichtung wiederzubeleben. Die fruchtlose parawissenschaftliche Kategorie dient ihm aber als eine neue Perspektive bei der Synthese der polnischen Historiographiegeschichte der letzten 250 Jahre.

„Spory o polską duszę“ in der hier anzuzeigenden Form ist die neue, überarbeitete und erweiterte Fassung eines Buches aus den frühen 1990er-Jahren.2 In der Zeit zwischen den beiden Auflagen untermauerte Wierzbicki mit mehreren Publikationen seine Stellung als führender polnischer Historiker.3 Das neue Buch ist in sechs Kapitel eingeteilt, denen eine Zusammenfassung beigefügt wurde. Ein Personenregister schließt den Band ab. Bedauerlicherweise wurde auf eine Bibliographie verzichtet.

Im ersten Kapitel analysiert Wierzbicki aufklärerische Konzepte, die sich im polnischen Fall hauptsächlich mit dem Problem des Untergangs der Rzeczpospolita Ende des 18. Jahrhunderts auseinandersetzten. Schon damals widmeten sich der Thematik die größten Köpfe des polnischen intellektuellen Lebens, wie Stanisław Staszic, Adam Naruszewicz, Jędrzej Śniadecki oder Wawrzyniec Surowiecki. In dieser Periode etablierten sich zugleich theoretische Positionen mit Langzeitwirkungen: einerseits die These von der Unveränderlichkeit des nationalen Charakters, andererseits die Überzeugung von dessen Evolution, sei es unter dem Einfluss der Geographie, der Geschichte oder der Kultur. Aus der Idee des Fortschritts resultierte die Annahme der allmählichen Verbesserung der nationalen Eigenschaften. Andererseits führte die Analyse der innerpolitischen Gründe des Staatszerfalls zur These der Degenerierung und zur Überzeugung von der Notwendigkeit der Rückkehr zu den vermeintlich besseren Urformen. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stellte man zum ersten Mal die Frage nach der zivilisatorischen Zugehörigkeit Polens zum Westen beziehungsweise zum Osten. Die letzte Option ging im Einklang mit dem Interesse am Slawentum, sei es im Geiste der slawischen Bewunderer Herders, sei es mit kritischer Distanz zu diesem.

Die Versuche der Romantiker, eine spezifische (nicht selten auch metaphysische) nationale Idee zu erarbeiten, analysiert Wierzbicki im zweiten Kapitel. Er betont dabei die Schlüsselrolle Russlands, die für viele Polen im 19. Jahrhundert eine Art „significant other“ war. Für Adam Mickiewicz, Joachim Lelewel und Bronisław Trentowski bildete Russland einen parallelen Bezugspunkt zum Westen. Die meisten polnischen Interpretationen waren kritisch bis niederschmetternd, wie in dem Fall von Franciszek Duchiński, der die These vertrat, dass die Russen keine Arier und somit auch keine Slawen, sondern „Turanier“ seien. Vor diesem Hintergrund entwickelte man Apologien des polnischen (auch gesamtslawischen, aber Russland ausgenommen) Nationalcharakters. In seiner Analyse der romantischen Geschichtswissenschaft betont Wierzbicki die Universalität des Nationalcharakters als einer wissenschaftlichen Kategorie, mit deren Hilfe man die logischen oder faktographischen Lücken überbrücken konnte.

Das dritte Kapitel beschreibt kritische Reaktionen auf die apologetischen Theorien des polnischen Romantismus. Die Kritik seitens der konservativen historischen Krakauer Schule bedeutete aber keinesfalls, dass sie selbst keine rein spekulativen Theorien des polnischen Nationalcharakters entwickelte. Die Achse dieser okzidentalistischen Kritik gipfelten in der knappen These: „Es fehlte uns an westlichen Eigenschaften“ (S. 139). Dieses kritische Urteil führte einige Autoren zur Überzeugung, alle Slawen sollen aufgrund ihrer charakterologischen Schwäche unter dem Zepter des Zaren verbunden werden.

Die neuromantischen Reaktionen auf diese kritische Wende behandelt Wierzbicki im vierten Kapitel. Er unterscheidet dabei drei Gruppen von Autoren. Die erste Gruppe bildeten die Epigonen der Romantik, deren Wirken eine späte Wiederholung der wichtigsten Thesen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellte. Die zweite Gruppe bestand aus den sogenannten Warschauer Positivisten. Deren Interpretationen der polnischen Geschichte (die am Beispiel Władysław Smoleńskis näher analysiert werden) unterstrichen die Anzeichen einer Wiedergeburt am Vorabend der Teilungen. Smoleński benutzte in seiner Kritik der Krakauer Schule auch Werkzeuge der jungen Soziologie, indem er über die „Gesellschaft“ schrieb, die nie hätte so degeneriert sein können, wie es Konservative am Beispiel einiger Magnaten ausgemalt haben. Schließlich etablierte sich eine dritte Gruppe der Apologeten des polnischen Nationalcharakters, die sogenannten Neuromantiker, deren Stunde in der Zeit des Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach schlug. Jan Karol Kochanowski und Antoni Chołoniewski benutzten die Kategorie des Nationalcharakters als einen Hinweis auf die innere Logik der polnischen Geschichte. Sie versuchten auch – gelegentlich mit Hinweisen auf Wilhelm Wundt oder Adolf Bastian – die nationale Charakterologie als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren.

Das fünfte Kapitel beschreibt die Diskussionen über den polnischen Charakter in der Zwischenkriegszeit. Wierzbicki analysiert die methodologischen Auseinandersetzungen um die Frage, ob Nationalcharaktere die Summe individueller Eigenschaften oder eine ontologische Ganzheit darstellten. Aus dieser Zeit stammen auch Versuche, einen „anthropologischen“ Typus des Polen zu konstruieren, obwohl weiterhin die historischen Argumente über alle anderen Konzepte, darunter auch über die Idee der „psychischen Rassen“, dominierten. Die Auseinandersetzung zwischen der „optimistischen“ und der „pessimistischen“ Interpretation des polnischen Polens hatte auch ihre aktuelle und politische Seite. Während des Ersten Weltkriegs und in den ersten Jahren des unabhängigen Staates dominierten die nationalistischen „Optimisten“; nach dem coup d’état von Józef Piłsudski im Jahre 1926 dagegen hatten die regimetreuen „Pessimisten“ das Sagen. Sie versuchten die autoritäre Macht mit den Schwächen des polnischen Nationalcharakters zu rechtfertigen.

Im vollständig neuen, sechsten Kapitel untersucht Wierzbicki den charakterologischen Gedanken in einer Zeit, da er – zumindest theoretisch – aufgegeben wurde. Trotz der Kritik der Marxisten an psychologisierenden Theorien entwickelte sich die besprochene Kategorie auch in Volkspolen gut, besonders nach 1956. Parallel zu den publizistischen Spekulationen von Zbigniew Załuski oder Aleksander Bocheński untersuchten Historiker die methodologische Seite des Problems, indem sie versuchten, Konzepte wie Psychohistoire und Geschichte der Mentalitäten in Polen zu etablieren. Wie wichtig ihnen diese Frage erschien, zeigte schon das immense Interesse der Forscher an der Problematik der Stereotypen- und Mythenforschung, als deren symbolischer Höhepunkt der polnische Historikertag 1985 in Posen gelten kann.4

Am Ende des Buches stellt Wierzbicki erneut die Schlüsselfrage, ob die analysierte Historiographierichtung mit Blick auf ihre ganze Popularität kognitiv völlig erfolglos geblieben war. Die einzige rationale Seite der nationalen Charakterologie sieht er im Mechanismus der Stereotypenbildung. Es konnte theoretisch möglich sein, dass die nationalen Eigenschaften, die konsequent suggeriert werden, als eine Art Norm in Repräsentationen niederschlagen würden. Dazu aber hätten die polnischen Autoren einen einheitlichen Typus des Polen erarbeiten müssen, was sie aber nie erreicht haben. Folgerichtig betrachtet Wierzbicki die „völkerpsychologischen“ Konstruktionen selbst als einen fundamentalen Mythos.

Das Buch von Andrzej Wierzbicki ist, ohne das der Begriff benutzt wurde, eine überzeugende Diskursanalyse, die den völkerpsychologischen Diskurs in Polen untersucht. Im Hintergrund der polnischen Debatten zeigt der Autor immer wieder die relevanten Entwicklungen in Westeuropa und in Russland. Bei einer so breiten Perspektive wäre es vielleicht zu viel zu erwarten, dass die völkerpsychologischen Diskurse der Nachbarnationen Polens auch berücksichtigt werden. Gleichwohl muss das Fehlen von Referenzen zu den ukrainischen, litauischen, weißrussischen und – nicht zuletzt – auch jüdischen Interpretationen kritisch angemerkt werden. In genannten Fällen funktionierte Polen oft als Referenzpunkt, gegenüber dem sich die Identitäten der Völkerschaften Ostmitteleuropas formten. Von Interesse wäre die Frage nach der Rolle, die in den von Wierzbicki analysierten Theorien tschechische, slowakische und südslawische Vertreter der „slawischen Wechselseitigkeit“, wie Ján Kollár, Jozef Šafarík oder Jernej Kopitar gespielt haben. Andererseits waren die regionalen, ostmitteleuropäischen Ideen für die polnischen Autoren sicherlich von viel geringerer Bedeutung als die französischen oder deutschen.

Die Unterschiede zwischen der ersten und der aktuellen Ausgabe dieses Buches konnten unmöglich einen revolutionären Charakter haben. Es sind vor allem Ergänzungen. Die Hauptthesen, die Konstruktion des Buches und die methodologischen Ansätze blieben weitgehend unverändert. Gerade deswegen kann die erneute Lektüre einige Lücken lokalisieren. Wierzbicki benutzt eine enorme Anzahl an Quellen, die er sehr scharfsinnig analysiert. Bei dieser Analyse stellt er zum Beispiel die Popularität der auch auf ganze soziale Gruppen angewandten Kategorie der Weiblichkeit fest. Die Ergebnisse der Frauenforschung der letzten Jahrzehnte bleiben dabei überraschend unerwähnt. „Gender“ oder Geschlechterdiskurs ebenso. Ziemlich ähnlich behandelt Wierzbicki die anthropologische Komponente der polnischen nationalen Charakterologie: das Problem wird identifiziert, die Frage des Sozialdarwinismus aber nicht berührt (der Name Darwins fehlt). Eine der Folgen ist, dass auch die Verbindung zwischen der nationalen Charakterologie und dem modernen Antisemitismus im Buch nur eine marginale Rolle spielt.

Kritische Anmerkungen wie diese dürfen jedoch nicht zu weit führen. Geschlechterdiskurse oder Rassenanthropologie sind für das polnische, wie auch für viele andere Historikermilieus ein relativ neues Forschungsfeld. Um all diese Lücken in der Analyse des völkerpsychologischen Denkens zu schließen, müsste Wierzbicki erneut Pionierarbeit leisten. Betont sollte dagegen werden, dass es ihm gelang, eine andere Gefahr zu vermeiden: den Hang zum Ironisieren. Die im Buch behandelten Betrachtungen des Nationalcharakters aus heutiger Perspektive zu lesen erfordert Empathie, Zurückhaltung und Offenheit für die Gedankengänge vieler im Übrigen intelligenter und lesenswerter Historiker. Wierzbicki ist ein fairer Führer durch die Irrwege des genauso fruchtlosen wie verbreiteten historischen Diskurses über die „Seele der Nation“.

Anmerkungen:
1 Georg Eckhardt, Völkerpsychologie. Versuch einer Neuentdeckung, Weinheim 1997.
2 Andrzej Wierzbicki, Spory o polską duszę. Z zagadnień charakterologii narodowej w historiografii polskiej XIX i XX w., Warszawa 1993.
3 Andrzej Wierzbicki, Groźni i wielcy. Polska myśl historyczna XIX i XX wieku wobec rosyjskiej despotii, Warszawa 2001; idem, Historiografia polska doby romantyzmu, Wrocław 1999; idem, Europa w polskiej myśli historycznej i politycznej XIX i XX wieku, Warszawa 2009.
4 Janusz Tazbir (Hrsg.), Mity i stereotypy w dziejach Polski, Warszawa 1991.

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